N° 434

SÉNAT

SESSION ORDINAIRE DE 2016-2017

Enregistré à la Présidence du Sénat le 22 février 2017

BERICHT

Interessensgruppe zum Austritt Großbritanniens und der Neugründung der Europäischen Union (1)

Europa wieder in Schwung bringen:
Den Geist aus Rom wiederfinden

Von MM. Jean-Pierre RAFFARIN und Jean BIZET,

Senatoren

Version française : http://www.senat.fr/notice-rapport/2016/r16-434-1-notice.html

(1) MM. Jean Bizet und Jean-Pierre Raffarin, Vorsitzender ; MM. Pascal Allizard, Jean-Marie Bockel, Éric Bocquet, Christian Cambon, Mme Joëlle Garriaud-Maylam, M. André Gattolin, Mme Éliane Giraud, M. Jean-Noël Guérini, Mmes Gisèle Jourda, Fabienne Keller, MM. Claude Kern, Didier Marie, Jean-Pierre Masseret, Mme Colette Mélot, MM. Xavier Pintat, Yves Pozzo di Borgo, Simon Sutour und Richard Yung, Mitglieder .

VORWORT

Der Brexit hat die Gefahr des Rückbaus, die über der Europäischen Union liegt, ans Licht gebracht. Obwohl die Europäer gerade das 60. Jubiläum des Vertrags von Rom vom 25. März 1957 vorbereiten, waren die inneren Auseinandersetzungen niemals so stark. Diese Situation ruft die Europäer dazu auf, den Weg der Einheit und des gemeinschaftlichen Projektes wiederzufinden. Das Jubiläum des Vertrags von Rom darf deshalb nicht nur eine einfache Gedenkfeier sein. Ganz im Gegenteil - es soll die Grundlagen eines neu gegründeten Europas legen, die solider und in größerer Übereinstimmung mit den Erwartungen der Völker sind.

Den Geist von Rom« wiederfinden

In dieser Perspektive und auf Initiative seines Präsidenten Gérard Larcher hin hat der Senat beschlossen, eine Begleitgruppe zum Austritt des Vereinigten Königreichs und zur Neugründung der Europäischen Union einzurichten. Diese Begleitgruppe, die dem Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten, Verteidigung und Militär sowie dem Europa-Ausschuss untersteht, hat acht Monate lang eine Reihe von Anhörungen in Paris, Berlin, Brüssel, Straßburg und London durchgeführt.

Der vorliegende Bericht hat nicht das Ziel, die derzeitige Lage der Europäischen Union erneut zu beschreiben. Eine Bilanz wurde bereits in den vorhergehenden Arbeiten des Senats gezogen, insbesondere im Bericht unseres ehemaligen Kollegen Pierre Bernard-Reymond 1 ( * ) . Mit den gewonnenen Erkenntnissen aus den Anhörungen und Mitteilungen, die von jedem seiner Mitglieder vorgestellt wurden, will der Bericht eher Wege aufzeigen, die es Europa ermöglichen, seinen Sinn wiederzufinden, den es niemals hätte verlieren dürfen, nämlich im Dienste des Wohlstands zu stehen und den Schutz der europäischen Völker zu gewährleisten. Er schlägt eine Vorgehensweise vor, damit dieser europäische Aufschwung unverzüglich umgesetzt werden kann.

? Ein Europa vor schweren internen Auseinandersetzungen

Die europäische Integration ist ein bedeutendes Vorhaben. Auf einem Kontinent, der über Jahrhunderte durch Konflikte ausgeblutet war, hat sie den Frieden, die Zusammenarbeit und die Verteidigung von Werten befördert, die sich um die Achtung der menschlichen Würde und der Grundrechte drehen. In nur wenigen Jahrzehnten hat sie einen Raum der Freizügigkeit geschaffen, der von den europäischen Bürgern als eine bedeutende Errungenschaft betrachtet wird. Indem nach und nach die Grenzen abgebaut wurden, hat die europäische Integration einen großen Binnenmarkt entstehen lassen, der den Neid der großen Volkswirtschaften hervorruft. Die Europäische Union ist die größte Handelsmacht der Welt.

Trotz allem müssen wir feststellen, dass Europa heute vor immensen Herausforderungen steht. Zuletzt hat die britische Entscheidung, aus der Europäischen Union auszutreten, einen Schock ausgelöst. Es war ein Schock in Bezug auf die Geschichte, die eine Annäherung der europäischen Völker ermöglicht hatte und deren Sinn sein sollte, ihre Vereinigung immer weiter zu vertiefen, aber nicht ihre Trennung und vielleicht morgen ihre Gegnerschaft hervorzurufen. Es war ein Schock in Bezug auf den Kontext einer Globalisierung, die sich zunehmend um fast Kontinente umfassende Staaten organisiert und was die Forderung nach Einheit und Kohäsion umso zwingender notwendig macht.

Der Brexit geschieht zu einem Zeitpunkt, zu dem Europa noch nicht vollständig die Folgen der Staatsschuldenkrise überwunden hat. Diese Krise zeigte die Schwächen der europäischen Integration auf. Sie war eine Folge der Finanzkrise, die in den US-amerikanischen Auswüchsen des Ultraliberalismus ihren Anfang genommen hatte. Die europäische Integration verfügte jedoch nicht über die notwendigen Mittel, um auf eine Krise von solcher Heftigkeit zu reagieren. Sie hatte den Euro hervorgebracht. Aber durch grobe Fahrlässigkeit konnte sie den währungspolitischen Pfeiler nicht durch eine effiziente ökonomische Steuerung vervollständigen, ohne die es unmöglich ist, eine Währung zu verwalten. So musste sie innerhalb weniger Monate Werkzeuge auf Kiel legen, die sie schon vor langer Zeit hätte einsetzen sollen.

Die Flüchtlingskrise hat den europäischen Raum ebenso stark destabilisiert. Sie war ein weiterer Indikator für die Unzulänglichkeiten in der europäischen Integration. Schengen hatte von Anfang an eine doppelte Bedeutung: einerseits die Abschaffung der Kontrollen an den Binnengrenzen, andererseits eine Verstärkung der Kontrollen an den Außengrenzen sowie eine Kooperation von Polizei und Justiz, um schwere Kriminalität zu bekämpfen. Da sie diesen zweiten Aspekt vernachlässigt hatte, war die Union unfähig, der Flüchtlingskrise angemessen zu begegnen. Die Mitgliedsstaaten haben sodann geglaubt, dass vereinzelte und unkoordinierte nationale Lösungen ausreichen würden, gerade dann, als Kooperation und Solidarität hätten überwiegen müssen.

Europa ist darüber hinaus einer terroristischen Bedrohung ausgesetzt, die sich unter dem Druck des internationalen Dschihadismus weiter verschlimmert hat. Nach Jahren der Leugnung und des nationalen Egoismus hat es schließlich erfahren müssen, dass nicht dieser oder jener Staat im Visier steht, sondern die gesamte europäische Zivilisation und die Werte, die sie vertritt. Gewiss bleibt die Sicherheit im individuellen Verantwortungsbereich der einzelnen Mitgliedsstaaten. Doch wie kann man gegenüber einer diffusen Bedrohung, die sich über nationale Grenzen hinwegsetzt, nicht erkennen, dass mehr als je zuvor eine Kooperation zwingend erforderlich ist, bei der die Union ihren ganzen Mehrwert einbringen muss. Der Senat betonte dies, indem er zur Verabschiedung eines angemessenen Aktes für die innere Sicherheit der Europäischen Union aufrief.

Allgemein gesprochen muss sich Europa in einer globalisierten Welt positionieren, in der die Bedrohungen stetig zunehmen und immer vielfältigere Formen annehmen. Es muss feststellen, dass seine eigene Sicherheit, die für viele Mitgliedsstaaten unter dem amerikanischen Schirm unbestritten schien, heute infrage gestellt werden kann. Dort, wo einige Mitgliedsstaaten geglaubt hatten, sie könnten sich einer wirklichen Anstrengung zur Verteidigung entziehen, realisieren, dass sie ihre eigene Verantwortung in diesem Bereich angesichts der neuen Bedrohungen nicht länger leugnen können.

§ Ein Europa ohne Vision und Führung, das von Zersplitterung und Zerfall bedroht ist

Die Herausforderungen sind riesig. Sich ihrer anzunehmen erfordert eine Vision und eine Führung , die Europa derzeit fehlen. Angesichts der Globalisierung sind die Staats- und Regierungschefs nicht ihrer Verantwortung nachgekommen, ihren Völkern die unvermeidlichen Konsequenzen zu erläutern, die sie in Bezug auf die Wettbewerbsfähigkeit und die Sicherheit mit sich bringen würde. Die immer größer werdende Verschuldung diente als Entschuldigung, um sich den neuen Gegebenheiten nicht stellen zu müssen. Sie stellt heute eine große Benachteiligung dar und schränkt die Fähigkeiten des Kontinents ein, den Weg des Wachstums wiederzufinden. Diese Leugnung hat sich durch die ärgerliche Angewohnheit fortgesetzt, Brüssel« für alles Schlechte verantwortlich zu machen und die Erfolge sich selbst zuzuschreiben. Die Mitgliedsstaaten haben sich somit geweigert, die europäische Integration trotz der Verträge, die sie gemeinsam ausgehandelt und unterzeichnet haben, wirklich zu verinnerlichen. Sie haben es versäumt, den notwendigen Impuls zu geben, indem sie klar definierten, was sie von der Europäischen Union erwarteten. Die sukzessiven Erweiterungen, denen keine wirkliche Erneuerung der institutionellen Mechanismen vorausgegangen war, haben bedauerlicherweise zu diesem Sinnverlust beigetragen.

Diese Trägheit in der politischen Verantwortung erklärt auch die Unfähigkeit Europas, zwischen den zwei möglichen Leitbildern für ihre Existenz klar zu wählen : entweder ein Raum Europa « zwischenstaatlicher Natur, der auf einen großen Binnenmarkt und sonst nichts ausgerichtet ist, oder eine Macht Europa «, die ihrer politischen Dimension gerecht wird und für eine starke Integration einsteht. Gleichzeitig ist Europa noch weit davon entfernt, ein einheitlicher Kontinent zu sein. Es leidet an der divergierenden wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zwischen dem nördlichen und dem südlichen Teil sowie dem Mangel an Homogenität zwischen dem westlichen und dem östlichen Teil, sowohl in ökonomischer als auch heutzutage in politischer Hinsicht.

Aus Mangel an Vision und Führung hat die Europäische Union eine bürokratische Verschiebung erlitten, welche die Völker der europäischen Integration nur voneinander entfernen konnte. Im Grunde hat das politische Projekt einer Inflation von Normen und aufwendiger, sogar unnützer administrativer Entscheidungen Platz gemacht, welche unsere Mitbürger umso weniger verstehen, je mehr sie deren Folgen im täglichen Leben spüren. Die Europäische Kommission«, die lange Zeit den Grundstein für die ambitionierte europäische Integration zu legen wusste, ist zu einer Art Sündenbock« für alle Fehler der staatlichen Führung geworden. Diese Wahrnehmung hat bedauerlicherweise die beachtliche Arbeit verschleiert, welche die Brüsseler Institution leistet. Die technokratische Verschiebung wurde durch ein demokratisches Defizit überlagert, sodass die Volksvertreter keine wirkliche Kontrolle über die Funktionsweise der europäischen Institutionen ausüben konnten.

§  Ein Europa, welches das Vertrauen seiner Bürger verloren hat

Das Vertrauen der Bürger in die europäische Integration basierte von Anfang an auf einem Triptychon, das sich bewährt hatte: Europa heißt Frieden; Europa heißt Demokratie; Europa heißt Wohlstand. Dabei wurde dieses Triptychon zunehmend hinterfragt: Der Frieden ist sicherlich gewahrt, doch der Konflikt in Ex-Jugoslawien und später die terroristische Bedrohung haben die politische Gewalt wieder aufleben lassen; das demokratische Defizit der Union wird infrage gestellt und der Einfluss der europäischen Integration auf die nationalen Demokratien durch die Vervielfältigung der Kompetenztransfers beklagt. Schließlich muss Europa auf wirtschaftlicher Ebene der schwersten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg begegnen. Die Arbeitslosigkeit erreicht ein außergewöhnlich hohes Niveau, vor allem bei den jungen Leuten; das Risiko für den sozialen Abstieg wird von der öffentlichen Meinung verstärkt wahrgenommen.

Man ist vom Vertrauen immer mehr zu einem Klima des Misstrauens gelangt, das voller Bedrohungen für den Fortbestand des europäischen Projektes ist. Dieser Wandel zeigt sich im Aufstieg populistischer Bewegungen, in der Versuchung des nationalistischen Rückzugs sowie im Aufstieg separatistischer Bestrebungen.

Die Völker haben der europäischen Integration zuerkannt, dass sie ihnen einen dauerhaften Frieden geschenkt hat. Sie schätzen auch Europa für seine Fähigkeit, nach dem Zerfall der Sowjetunion den Kontinent wiedervereint zu haben. Doch gegenüber der Globalisierung erwarten sie, dass Europa sie schützt. Was sie bis jetzt nicht geschafft hat. Diese enttäuschte Erwartung erklärt weitgehend die Distanzierung der Völker vom europäischen Projekt. Man kann nur das Paradoxe an dieser Situation feststellen. Denn gegenüber der Globalisierung ist die europäische Integration nicht das Problem, sondern offenkundig die Lösung.

? Für eine Neugründung der Europäischen Union: den Brexit als Sprungbrett für einen Neuanfang nutzen

Der Brexit ist ein Schock. Er ist aber auch eine Gelegenheit , dem europäischen Projekt neues Leben einzuhauchen. Er muss das Signal für den europäischen Aufschwung geben. Unter dieser Bedingung kann Europa auf der internationalen Bühne weiterhin wirken, während es sein demokratisches Modell und seine grundlegenden Werte bewahrt.

Ein Zerbrechen Europas ist geopolitischer Unsinn

Die Alternativen sind klar: kollektiver Aufschwung oder das Ende der Geschichte. Im Jahr 2050 wird jeder europäische Staat weniger als 1 % der Weltbevölkerung ausmachen. Nur Deutschland wird noch zu den ersten zehn Wirtschaftsmächten weltweit zählen. Das heißt, allein durch die Europäische Union werden die europäischen Staaten gegenüber den wirtschaftlichen Großmächten in Zukunft existieren können. Und indem es seine Kräfte bündelt, kann Europa sein Gesellschaftsmodell bewahren und seine Werte verteidigen.

Heute haben die Großmächte jeweils ihre eigene Vision von Europa. Im Allgemeinen wünschen sie seinen Rückbau. Selbst Europa fällt es schwer, seine Identität zu behaupten. Es muss eigentlich im Gegensatz dazu seiner Geschichte und seiner Zukunft gerecht werden. Es muss sein eigenes Leitbild einfordern. Und zwar dasjenige eines Zivilisationsprojektes, das von einer Macht als Gemeinschaft von Nationen getragen wird, die sich dazu entschieden haben, einen Teil ihrer Souveränität gemeinsam auszuüben, um in einer globalisierten Welt ein stärkeres Gewicht zu haben.

Gegenüber von fast Kontinenten entsprechenden Staaten, die ohne zu zögern zu den Waffen der Macht greifen, um ihre Ziele zu erreichen, muss sich Europa selbst als eine Macht präsentieren, die für ihre eigene Sicherheit sorgt. Es muss das verteidigen, was seine Identität ausmacht. Es muss für seine Werte, die Achtung der Menschenwürde, der Grundrechte und der Demokratie, einstehen. Als erste Handelsmacht mit der Stärke des Binnenmarktes muss sich Europa in den internationalen Handelsgesprächen Achtung verschaffen.

Das europäische Projekt muss erneuert werden, es muss auf einer klaren Vision gegründet und von den Nationalstaaten getragen sein. Es muss neu verzaubert werden. Dabei sollte mit denjenigen Prioritäten begonnen werden, deren europäischen Mehrwert die Völker klar als solchen erkannt haben: Sicherheit, Beschäftigung und Wettbewerbsfähigkeit. Dieses neu ausgerichtete Europa muss die Subsidiarität uneingeschränkt achten. Europa muss lesbarer und näher am Bürger sein. Es muss seine Funktionsweise reformieren und der demokratischen Kontrolle ausreichend Platz einräumen, insbesondere indem es die Rolle der nationalen Parlamente bestätigt. Unter diesen Bedingungen kann man die Skepsis, welche die Einheit der Europäer infrage stellt, überwinden.

Dieses Ziel muss in erster Linie vom deutsch-französischen Motor getragen werden, der leider an Antriebskraft verloren hat. Nur er allein kann Europa aufwecken. Er muss die notwendigen Initiativen ergreifen, um die Unterstützung unser anderen Partner zu gewinnen. Die deutsch-französische Beziehung darf nicht exklusiv sein. Sie ist darum nicht weniger entscheidend. Für unsere beiden Länder stehen 2017 bedeutende Wahlen an. Nach deren Abschluss treten sie in eine Phase politischer Stabilität ein, die für starke Initiativen förderlich ist und die es ermöglicht, das Vertrauen der Völker in die europäische Integration wiederzuerlangen.

Das Ziel des vorliegenden Berichts soll sein, Perspektiven aufzuzeigen, die als Fahrplan« für diesen Neuanfang dienen könnten.

I. FüR EINE MACHT EUROPA

Europa muss sich als Macht sehen und als solche handeln. Dies erfordert, die Verteidigung Europas zu verstärken, den Mehrwert Europas in der Bekämpfung des Terrorismus und für die innere Sicherheit uneingeschränkt zu nutzen, die europäische Antwort auf die Flüchtlingskrise zu festigen und die europäischen Interessen in internationalen Handelsgesprächen besser zu verteidigen. Es ist darüber hinaus unausweichlich, die Konturen der Union zu stabilisieren und eine Pause in der Erweiterung einzulegen.

A. DIE VERTEIDIGUNG EUROPAS VERSTÄRKEN

Die Europäische Union muss zunächst ihre Fähigkeit, die Europäer zu verteidigen, stärken. Der Brexit ist in diesem Zusammenhang eine großartige Herausforderung in Anbetracht der Bedeutung und Qualität der Streitkräfte Großbritanniens, ohne derzeitiges Äquivalent bei unseren anderen europäischen Partnern, und zugleich eine Gelegenheit , da die Bremse für eine potenziell stärkere Integration dadurch aufgehoben ist.

Wir warten nicht mehr auf die Umsetzung der berühmten Friedensdividenden, auf die wir nach dem Ende des Kalten Krieges gehofft hatten. Der Beginn des 21. Jahrhunderts ist geprägt vom Terrorismus, dem Anstieg von Bedrohungen, der Rückkehr der Macht und der Machtstaaten auf der internationalen Bühne sowie von der Unsicherheit in Bezug auf das atlantische Bündnis nach der Wahl von Donald Trump. Wir müssen diesen besonderen Moment nutzen! Im Bereich der Verteidigung müssen wir uns von einem gewissen naiven Optimismus und von einer überholten Sicht auf die Welt verabschieden. Wenn sie auch nicht genügt, um Europa neu zu gründen, so ist die seit langem erwartete Herausbildung einer Verteidigung Europas unerlässlich.

1. Die Notwendigkeit eines politischen Willens gegenüber den zunehmenden Bedrohungen, basierend auf einer geteilten strategischen Vision

Obwohl das Kontinuum zwischen innerer und äußerer Sicherheit nun klar festgelegt ist und zahlreiche Länder der Europäischen Union vom Terrorismus betroffen sind, erwarten 500 Millionen Europäer, dass sich Europa als Verteidigungsmacht behauptet, um ihren Schutz zu garantieren. Um diesen Erwartungen gerecht zu werden, müssen wir Europa als Macht endlich umsetzen, was sich in einer echten strategischen Autonomie äußern muss.

In diesem Rahmen scheint es notwendig, mittelfristig über ein Dokument vom Typ Strategieüberprüfung« zur europäischen Verteidigung zu verfügen, um Divisionen zu vermeiden, die auf die Existenz mehrerer unterschiedlicher Analyseraster für die Bedrohungen zurückzuführen sind. Es ist unerlässlich, die politischen Bestrebungen um ein gemeinsames strategisches Leitbild, das heißt, um eine gemeinsame Analyse der Bedrohungen zu einen, was sich in einem klaren politischen Willen ausdrückt. Nur dies wird die Effizienz des Umsetzungsplans für die globale Strategie zur europäischen Außen- und Sicherheitspolitik garantieren, die von der hohen Vertreterin der Union für die Außen- und Sicherheitspolitik vorgeschlagen und vom Europäischen Rat am 15. Dezember 2016 bestätigt wurde. Es ist zudem wünschenswert, dass diese globale Strategie mit einer klar definierten globalen Strategie im Bereich der Außenpolitik der Europäischen Union übereinstimmt. Die Koordinierung und Vertretung der Außenpolitik der Union war allerdings in den letzten Jahren sehr mangelhaft, insbesondere gegenüber den bedeutenden Krisen und Herausforderungen, vor denen Europa stand und steht: Schutz der Grenzen, Steuerung der Flüchtlingskrise und die Beziehungen zur Türkei sowie die Herkunftsländer der Wirtschaftsmigration. Es ist zwingend notwendig, dass sich die Union eine autonome Außenpolitik verschafft, die lesbar und wirkungsvoll ist. Ihre Maßnahmen, ihre unterschiedlichen Beihilfen, ihre Interventionen müssen besser erkennbar sein, was heute bei weitem nicht der Fall ist. Sie müssen sich in einen koordinierten Rahmen eingliedern, der die Laufrichtung, die sich die Europäische Union geben will, zum Ausdruck bringt und in einem zwischenstaatlichen Rahmen festgelegt wird.

In Zusammenhang mit der finanziellen Ressourcenverknappung und der Vervielfachung der Bedrohungen ist es notwendig, die Themen und Probleme zwischen der Europäischen Union und der NATO zu präzisieren, damit klar ist, dass eine europäische Verteidigung komplementär zur Einrichtung der NATO und keinesfalls redundant oder konkurrierend zur ihr ist.

2. Stützung auf eine zwischenstaatliche Dynamik

Die Verteidigung bleibt im Grunde ein zwischenstaatliches Politikfeld. In diesem Sinn ist die deutsch-französische Initiative vom September 2016, die in den Briefen der Verteidigungsminister Frankreichs, Deutschlands, Spaniens und Italiens aufgenommen wurde, ein ermutigendes Zeichen für eine robuste europäische Verteidigung, die integrative und verstärkte Kooperationen beinhaltet.

Die Einrichtung eines permanenten politischen Dialogs , der die deutsch-französische Zusammenarbeit im Bereich der Verteidigung klärt und verstärkt, ist in dieser Hinsicht entscheidend. Dieser gestärkte deutsch-französische Motor könnte eine freiwillige Vorgehensweise zur Abstimmung der Planung der Verteidigungsbudgets und -kapazitäten entwickeln, die in Form einer jährlichen Prüfung der koordinierten Verteidigung « auf Ebene der Regierungen und Generalstäbe stattfinden würde. Es würde den gewillten Staaten erlauben, sich in Anlehnung an das Europäische Semester, jedoch auf die Verteidigung und die Sicherheit angepasst, über ihre Verteidigungsbudgets und Investitionen in Kapazitäten abzustimmen. So könnten sie sich in ihren Anstrengungen gegenseitig unterstützen , um die Wirksamkeit der für die Verteidigung zugestandenen Mittel maximal zu erhöhen. Diese Funktionsweise würde die gewillten Länder dazu bringen, das gesetzte Ziel von 2 % des BIP zu erreichen und die erkannten Kapazitätslücken zu schließen, zum Beispiel die Luftbetankung, die Cybersicherheit, Drohnen oder Satellitenkommunikation.

3. Sich die Möglichkeiten des Vertrags von Lissabon vollkommen zunutze machen

Die Verstärkung der europäischen Verteidigung muss sich sowohl auf die juristische Flexibilität stützen, die der Vertrag von Lissabon ermöglicht, als auch auf die Entwicklung von Werkzeugen zur operativen Kohärenz und schließlich auf die europäische Finanzierungsfähigkeit für die Verteidigung.

Unter den Vorschlägen, die der europäischen Verteidigung einen politischen Schwung geben könnten, meinen wir, dass ein Europäischer Sicherheits- und Verteidigungsrat eingerichtet werden sollte, um die Bedrohungen zu evaluieren, denen die Union ausgesetzt ist. Diese Evaluation muss zu konkreten politischen Handlungen führen; vor allem würde in diesem sehr politischen Rahmen der Zusammenkunft der Mitgliedsstaaten per Definition die Fusion zwischen innerer und äußerer Sicherheit erfolgen. Die GSVP ist ein wichtiger Bestandteil, aber nicht der einzige.

In gleichem Maße hat der Vertrag von Lissabon eine permanente und strukturierte Kooperation geschaffen, die denjenigen Staaten offen steht, die über erhöhte militärische Fähigkeiten verfügen. Im Bereich der Kapazitätsaufteilungen oder der logistischen Unterstützung und Kohärenz muss diese Erleichterung, die relativ flexibel und deren Anwendungsgebiet a priori nicht begrenzt ist, im Falle einer Blockierung Realität werden können. Sie kann einen wirklichen europäischen Mehrwert bringen.

4. Die Entwicklung von Werkzeugen zur operativen Kohärenz und der europäischen Finanzierungsfähigkeit

In dieser Hinsicht muss die Einrichtung einer permanenten Struktur der Union zur Planung, Führung und Leitung militärischer Einsätze in Betracht gezogen werden. Die Erschaffung einer wirklichen Führungs- und Leitungsfähigkeit für Einsätze wäre eine Herausforderung für die operative Wirksamkeit, aber auch, und vor allem, für die strategische Autonomie.

Das Handlungsinstrumentarium der Europäischen Verteidigungsagentur muss weitgehend überarbeitet werden, in erster Linie die Höhe ihrer Finanzmittel. Ihr ursprüngliches Ziel kommt heute voll zum Tragen: die notwendigen militärischen Fähigkeiten der Union zu identifizieren, entsprechende Programme zu entwickeln und sich auf die gemeinsame Verteidigungsforschung zu stützen, um eine europäische Rüstungsindustrie zu etablieren.

Die Europäische Kommission hat ebenfalls erstmalig ein Finanzierungssystem für die Verteidigungsforschung angestoßen, die für die strategische Autonomie im Rüstungsbereich grundlegend ist, sowie die Einrichtung einer verteidigungstechnologischen und -industriellen Basis für Europa (EDTIB). Der europäische Aktionsplan für die Verteidigung, der von der Kommission im November 2016 vorgeschlagen wurde, sieht vor, dass der europäische Verteidigungsfond die Zahlungen der Mitgliedsstaaten erhalten und verwalten könnte, um die Verteidigungsfähigkeiten gemeinsam zu entwickeln. Die Kommission schlägt vor, dass diese Zahlungen nicht zu den Auflagen des Stabilitätspaktes gezählt werden.

Unterm Strich gründet sich das neue europäische Verteidigungsziel auf drei Feststellungen .

Es muss zuerst auf das Bedürfnis nach Sicherheit reagiert werden, das von den Europäern selbst geäußert wird. Die Sicherheit und die Verteidigung gehören zweifelsfrei zu den wenigen Bereichen, wo die Unionsbürger am überzeugtesten sind, dass nur gemeinsam wirkungsvoll gehandelt werden kann, und nicht isoliert. In einem Klima der allgemeinen Europaskepsis spielen die Sicherheit und die Verteidigung eine zentrale Rolle für den europäischen Mehrwert. Gleichermaßen bleibt die GSVP bei der Union, um außerhalb ihrer Grenzen Bedrohungen auf ihrem Territorium zu verhindern: Sie bildet nicht allein die gesamte Sicherheitsfähigkeit der Europäischen Union, sondern ist nur ein Teil davon.

Des Weiteren sieht der Vertrag von Lissabon, im Gegensatz zu den vorhergehenden europäischen Verträgen, zahlreiche Bestimmungen vor, die eine ambitionierte GSVP begünstigen. Er hat die Logik umgekehrt, nach der eine glaubwürdige europäische Verteidigung für verdächtig gehalten wurde. Noch ist nicht alles gewonnen, aber wir können auf Grundlage dieser Texte eine neue Geisteshaltung ausbauen, indem wir das Bestehende nutzen. Aber, wie so oft in der Vergangenheit, wird dies die x-te verfehlte Gelegenheit sein, wenn ein solider und andauernder politischer Wille fehlt.

Selbst wenn sich schließlich ein Raum für eine glaubwürdige GSVP zu ergeben scheint, ist und bleibt die Verteidigung in der souveränen Verantwortung der Staaten. Verteidigungsbudgets, Strategien, Kapazitäten, der mehr oder weniger große Wille oder die politische Fähigkeit, sich militärisch auf Krisenschauplätzen zu engagieren - all diese Parameter unterstehen allein der nationalen Souveränität. Verantwortlich sind sowohl die Regierungen als auch die nationalen Parlamente. Auf dem Gebiet der Verteidigung wie auch auf anderen muss ihnen Raum geboten werden, um sich verstärkt auszutauschen. Wir müssen also das heikle Gleichgewicht zwischen Souveränität und kollektiver Kohärenz sowie zwischen sehr verschiedenen diplomatischen, politischen und militärischen Traditionen finden und versuchen, eine gemeinsame Strategie aufzubauen, die auf gemeinsam vertretenen Interessen beruht.

Diese Übung ist schwer. Die Verabschiedung einer europäischen Strategie im Juni 2016 war ein Startpunkt. Wir müssen nun, und vor allem schnell, konkrete Maßnahmen daraus ableiten.

Empfehlungen zur europäischen Verteidigung

1. Einen wirklichen politischen Willen definieren und zum Ausdruck bringen, der auf einer autonomen strategischen Vision der Europäischen Union gründet, die von den Mitgliedsstaaten geteilt wird:

- sich auf die von der Hohen Vertreterin vorgeschlagene und vom Europäischen Rat erlassene Strategie für die europäische Außen- und Sicherheitspolitik stützen;

- einen ambitionierten Umsetzungsplan« ausarbeiten: eine europäische Strategieüberprüfung«;

- die Herausforderungen und Prioritäten in der Beziehung EU/NATO präzisieren.

2. Nicht außer Acht lassen, dass die Verteidigung im Grunde ein zwischenstaatliches Politikfeld bleibt:

- Großbritannien im Vorhaben einer europäischen Verteidigung nicht außen vor lassen. Ein erweitertes Lancaster House« einrichten, als multilateralen zwischenstaatlichen Rahmen zur Abstimmung und Aktion auf dem Gebiet der Verteidigung;

- eine jährliche Überprüfung der koordinierten Verteidigung« einrichten, als ein freiwilliger Dialog zur Planung der Verteidigungsbudgets und -fähigkeiten;

- die deutsch-französische Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Verteidigung, vorzugsweise im Rahmen eines dauerhaften Dialogs, klären und verstärken;

- die europäischen Instrumente verstärken, um die Rüstungsexportpolitik außerhalb der EU zu harmonisieren und die europäische Gesetzgebung zu aktualisieren, die sich mit der Beschaffung von Verteidigungsgütern und dem innereuropäischen Verkehr von verteidigungsrelevanten Produkten beschäftigt (Direktiven aus dem Jahr 2009).

3. Sich die juristischen Möglichkeiten, die der Vertrag von Lissabon eröffnet, vollkommen zunutze machen:

- einen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsrat einrichten;

- einen Rat der Verteidigungsminister institutionalisieren, der vor allem das jährliche Treffen des Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsrates vorbereitet, um Bedrohungen zu evaluieren, die notwendigen politischen Impulse vorzuschlagen, damit ein Markt und eine industrielle Basis für die europäische Verteidigung geschaffen werden;

- dauerhafte, strukturierte Kooperationen auf allen Gebieten entwickeln, wo das Instrument effizient ist;

- bei den militärischen Operationen der GSVP Kampfgruppen der Europäischen Union (EUBG) verpflichten; den Eurokorps stärker einbeziehen;

- den Fonds zum Start militärischer Operationen der GSVP umsetzen.

4. Die bestehenden Instrumente der europäischen operativen Kohärenz stärken; die europäischen Fähigkeiten zur Finanzierung der Verteidigung entwickeln

- eine dauerhafte Struktur zur Planung, Führung und Leitung militärischer Operationen der GSVP schaffen;

- eine europäische Finanzierung für Operationen entwickeln, die Ländern am Ausgang einer Krise die Stabilisierung und Ausbildung im Bereich der Sicherheit ermöglichen (Stabilisierungsinstrument);

- den Finanzierungsmechanismus für militärische Operationen der GSVP (Athena) reformieren, indem der europäische Anteil erhöht wird;

- die europäischen Finanzmittel über einen Europäischen Verteidigungsfonds für die Verteidigungsforschung und die Entwicklung gemeinsamer Fähigkeiten initiieren und verstärken;

- die Ressourcen und Verantwortlichkeiten der Europäischen Verteidigungsagentur als Instrument für die Entwicklung europäischer Rüstungsprogramme und zur Definition der auf die Ausrüstung anwendbaren Normen erhöhen;

- die BEI anregen, zur Finanzierung der Verteidigung, speziell zugunsten der KMU, beizutragen.


* 1 Pierre Bernard-Reymond: L'Union européenne : du crépuscule au nouvel élan« (Die Europäische Union: vom Morgengrauen zu neuem Elan), Nr. 407 (2013-2014) 26. Februar 2014.

Les thèmes associés à ce dossier

Page mise à jour le

Partager cette page