II. EIN MÖGLICHERWEISE ZU STARK AM WESTEN ORIENTIERTER KOMPASS

Durch die erneuten Bemühungen der USA in die transatlantischen Beziehungen messen die meisten Mitgliedstaaten der GSVP eine geringere Priorität bei. Ohne die Motivation, sich im Bereich der Sicherheit und Verteidigung besser zu organisieren, könnte ihre Strategie mehr als angemessen an die der NATO angepasst werden.

A. DIE GROSSE RüCKKEHR DER ATLANTISCHEN AUSRICHTUNG ...

Die von Joe Biden angekündigte Rückkehr zur Unantastbarkeit des Schutzschirms der NATO“ schmälert die Chancen auf einen Strategischen Kompass, der wesentliche Fortschritte in den Bereichen Sicherheit und Verteidigung bringt erheblich. Die haushaltspolitischen und innenpolitischen Perspektiven der Mitgliedstaaten sehen nicht besser aus. Kurz gesagt, während sich der Strategische Kompass auf die kritische Phase der Synthese und politischen Einigung zubewegt, schließt sich für die GSVP eine Tür .

1. Die neuerliche Glaubwürdigkeit der NATO angesichts einer GSVP mit einem - aufgrund des Brexits - reduzierten Potential

America is back ! Die Wahl von Joe Biden und die Ankündigung, dass die USA erneut ihre Rolle als Weltgendarm im Dienst des Rechts und der Demokratie übernehmen, eigenständig oder im Rahmen einer NATO, die ihre Schutzfunktion der Alliierten bekräftigt hat, die Nominierungen von Antony Blinken sowie von Karen Donfried als Assistant Secretary for European and Eurasian Affairs wurden in der gesamten Europäischen Union begeistert aufgenommen. Angesichts dieser Rückkehr zu einer vertrauten und sicheren Beziehung, fühlen sich die europäischen Entscheider bestätigt, da ihnen in der Regel daran gelegen ist, an die Tradition der transatlantischen Beziehungen anzuknüpfen.

Die USA sind entschlossen, Russland für seine Attacken und seine Einmischung im Cyberbereich zur Rechenschaft zu ziehen und gleichzeitig seine Menschenrechtsverletzungen anzuprangern (auch wenn die Auswirkungen dieses Ansatzes kaum spürbar sind, da anekdotische Truppenabzüge an den ukrainischen Grenzen oder die Behandlung von Alexej Nawalny in den Gefängnissen immer noch Anlass zur Beunruhigung geben). Ebenso kann die Türkei, deren europäische Verbündete Opfer illegaler Handlungen sind, nicht mehr mit dem gleichen Maß an Passivität seitens der USA rechnen, die durch ihre Raketenkäufe von Russland stark brüskiert sind (und das Ergebnis ist deutlich spürbar: Erdogans Rhetorik gegenüber der EU ist auf einmal viel versöhnlicher).

In diesem Zusammenhang ruft das Konzept der strategischen Autonomie, das in den vier Jahren der Trump-Regierung zunehmend an Unterstützung gewonnen hatte, wieder größeres Misstrauen hervor , zumindest in seiner sicherheits- und verteidigungszentrierten Ausprägung . Die natürliche Neigung der Bundeswehr zur NATO, in deren Rahmen sie geschaffen wurde, kommt in einem durch den Stopp für den US-Truppenabzug - mit einem enorm symbolischen Charakter - und den amerikanischen Verzicht auf die Sanktionierung der Betreiber des Projekts Nord Stream 2 zweifach beruhigten Deutschland erneut zum Ausdruck. Einzig und allein sein Willen zu fortdauernden Beziehungen zu China, um seine wirtschaftlichen Interessen zu schützen, kann es noch von der USA abwenden. Angesichts der Auswirkungen der deutschen Politik auf viele europäische Partner hat das Argument der Unzuverlässigkeit der USA und damit der NATO kaum noch Bestand. Kurz gesagt nehmen die konditionierten Reflexe“ der transatlantischen Ausrichtung überall überhand.

Verglichen mit der Situation vor Trump ist der Brexit ein zusätzliches Argument, um das Gleichgewicht zugunsten der NATO zu verschieben, denn das Vereinigte Königreich ist der Bündnispartner mit den höchsten Verteidigungsausgaben (60 Mrd. $) hinter den USA (785 Mrd. $) und vor Deutschland (56 Mrd. $) und Frankreich (50 Mrd. $) 81 ( * ) , so dass auf die EU-Länder, die der NATO angehören, nur noch ein Fünftel der Verteidigungsausgaben aller NATO-Länder entfällt. 82 ( * )

2. Mit der Gesundheitskrise verbundene Mehrausgaben

Die Gesundheitskrise hat zu enormen Ausgaben zwecks Stützung der Wirtschaft geführt und gleichzeitig in punkto Sicherheit die Aufmerksamkeit auf das untere Spektrum und die Resilienz gerichtet. In diesem Zusammenhang könnte in einer Zeit, in der die NATO ihre Garantien bekräftigt und sogar ausweitet (siehe nachstehend), die sich aus dem Anstieg der Verschuldung ergebende angespannte finanzielle Situation die Mitgliedstaaten dazu veranlassen, Abstriche bei den Fähigkeiten und den Operationen zu machen, um die Verteidigungshaushalte zu reduzieren. Das folgende Schaubild zeigt, wie sehr sich die finanzielle Lage in der EU seit 2007 infolge des doppelten Schocks aus Finanzkrise 2008 und Gesundheitskrise verschlechtert hat.

ENTWICKLUNG DER STAATSVERSCHULDUNG, AUSGEDRüCKT IN PROZENT DES BIP, VON 2007 BIS 2020

Quelle: Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten und Verteidigung des Senats, Eurostat-Zahlen (abgerufen am 7. Mai 2021)

Diejenigen Mitgliedstaaten, die von sich aus keine Maßnahmen für eine Haushaltskonsolidierung ergreifen, werden durch den geringsten Anstieg der Inflation - die sich bislang nur schwach bemerkbar macht - unweigerlich dazu gezwungen werden, um ihre Verschuldung auf einem erträglichen Niveau zu halten. Die EU selbst könnte solche Maßnahmen fördern oder sogar fordern, insbesondere als Gegenstück zu ihrem Konjunkturpaket Next Generation EU“.

Es ist bereits absehbar, dass der deutsche Verteidigungshaushalt nach 2022 nicht mehr steigen wird; er könnte sogar sinken, da der Bundestag mit einer weithin erwarteten Haushaltskürzung rechnet und weiß, dass nur Ausgaben, die durch den Bedarf der NATO gerechtfertigt sind, die entsprechenden Mittel garantieren.

3. Politische Konstellationen, die sich möglicherweise weniger günstig entwickeln

Bleibt man beim deutsch-französischen Motor“, so sind sowohl die deutschen Wahlen im September 2021 als auch die französischen Wahlen im Frühjahr 2022 Hypotheken zulasten einer Mobilisierung der EU zugunsten der Verteidigung.

In Frankreich geht Emmanuel Macron das Thema Europa mit mehr Sensibilität an als seine potenziellen Konkurrenten bei den nächsten Präsidentschaftswahlen. In Deutschland könnten die Wahlen zu einer schwarz-grünen“ Koalition zwischen der CDU und den Grünen , oder sogar zu einer Drei-Parteien-Koalition unter Einbeziehung der FDP (Freie Demokratische Partei) führen, da die Wahlabsichten für die Grünen zuletzt gesunken sind. In beiden politischen Gleichungen bleiben die von den Grünen gewählten Optionen die entscheidende Variable. Traditionell noch zurückhaltender in Verteidigungsfragen als die CDU oder die FPD, würden sie jetzt zu einer etwas offeneren und realistischeren Linie tendieren, die mit der der beiden anderen Parteien kompatibel sei 83 ( * ) . Andererseits scheint es, dass die Grünen in Bezug auf das strategische Vorgehen gegenüber dem russischen und insbesondere dem chinesischen Regime, bei dem Deutschland recht deutlich mit den USA auf Distanz geht, den Wunsch auf eine Entschlossenheit haben, die sie den amerikanischen Ansichten näher bringen könnten.

Allgemein sind ein erneuter Anstieg des Terrorismus oder neue Migrationswellen wahrscheinlich, Umstände, die die populistische Rhetorik und Parteien begünstigen sowie eine Tendenz zum Euroskeptizismus und ganz sicher ein nationaler Rückzug in Sicherheits- und Verteidigungsfragen, der angesichts der NATO-Garantie zu einem mangelnden Interesse an der GSVP führt.

*

In den Bereichen Sicherheit und Verteidigung laufen alle politischen und budgetären Faktoren zusammen, so dass sich die Europäer gleichermaßen in die euro-atlantische Beziehung einbringen und die Wiederbelebung des europäischen Projekts auf unbestimmte Zeit verschieben.


* 81 Schätzung für das Jahr 2020, aktueller Wechselkurs.

* 82 Zur Veranschaulichung: In den Antworten der Botschaften wird Litauen beschrieben als bestrebt, die NATO nicht zu schwächen, indem es dem Vereinigten Königreich einen wichtigen Platz in der europäischen Verteidigungsstruktur einräumt“.

* 83 Die radikalsten unter ihnen haben sich größtenteils der Partei Die Linke angeschlossen, die mit ihrer Abneigung gegenüber Operationen und der Bundeswehr nun die pazifistische Nische im politischen Spektrum besetzt, aber wohl kaum Teil einer Koalition sein wird.

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